Liebste Minna, die „guten alten Zeiten“ haben mich ja schon immer fasziniert. Nicht, weil ich glaube, dass früher alles besser war. Nein, das war es definitiv nicht – vor allem nicht für viele Menschen, deren Stimmen damals kaum gehört wurden. Frauen, Kinder, Andersdenkende, Andersliebende – du weisst, was ich meine. Und trotzdem zieht mich diese andere Zeit an. Oder vielleicht eher das, was davon geblieben ist: eine gewisse Langsamkeit. Eine Würde im Alltag. Etwas Echtes.
Was mich in den letzten Wochen beschäftigt, hat eigentlich ganz unscheinbar begonnen. Mit Kirschen. Genauer gesagt: mit dem Pflücken unserer eigenen Kirschen vom Baum im Garten. Es war einer dieser warmen Sommertage, an denen man nichts mehr braucht als einen Hut, eine Leiter und jemanden, der einem in der Nähe ist. Kein Handy, keine App, kein Timer. Nur wir zwei. Mein Partner und ich. Und der Baum.
Wir standen da – mit beiden Händen in den Ästen, rotem Fruchtsaft an den Fingern und Sonne auf der Haut. Und es war, als würde die Zeit stillstehen. Nicht künstlich angehalten durch Achtsamkeitstechniken, sondern ganz von selbst. Ich war vollkommen präsent. Nicht im Sinne von: Ich sollte jetzt achtsam sein. Sondern einfach da. Ohne Druck. Ohne Effizienzgedanken. Ohne To-do-Liste im Kopf.
Und plötzlich erinnerte ich mich an früher. An die Herbstferien bei meinen Grosseltern, als wir dem Nachbarsbauern bei der Zuckerrübenernte halfen. Das war kein kindgerechtes Freizeitprogramm – das war Arbeit. Und trotzdem war es erfüllend. Weil sie etwas mit mir machte. Weil sie mir ein Gefühl gab: Du bist Teil von etwas. Dein Tun hat Gewicht. Du wirst gebraucht.
Heute erledigen Maschinen diese Aufgaben in einem Bruchteil der Zeit. Sie helfen, sparen Kraft, übernehmen, was uns einst Tage kostete. Und ich will nicht zurück in die Zeit vor Waschmaschine, Internet und Mähdrescher – wirklich nicht. Aber ich frage mich: Wofür verwenden wir all die gewonnene Zeit eigentlich?


Denn wenn ich mich umsehe, dann sind wir nicht entspannter geworden. Nicht ruhiger. Nicht verbundener. Im Gegenteil: Wir nutzen unsere „Helferlein“, um noch mehr zu schaffen. Noch schneller. Noch effizienter. Und statt dass uns die Technik entlastet, entzieht sie uns unser Tempo. Unser Maß. Unser Empfinden für genug.
Ich beobachte das mit einer Mischung aus Staunen und Müdigkeit. Die Wäsche ist heute schneller gemacht als früher – aber kaum ist sie verräumt, liegt das nächste To-do auf dem Tisch. Die Küche ist durchorganisiert, die Kinder durchgetaktet, das Wochenende durchgeplant. Erholung wird zur Pflichtveranstaltung. Ich höre von Eltern, deren Alltag so eng getaktet ist, dass kein spontanes „Heute bleiben wir einfach im Pyjama“ mehr Platz findet. Alles folgt einem unsichtbaren Rhythmus, der nicht der unsere ist.
Und ich frage mich: Ist das wirklich Fortschritt?
In ein paar Wochen werde ich 45. Und ich merke, wie oft ich in diesen Tagen zurückdenke – an Sommer, die nach Gras rochen, nach See und Glace. Nicht, weil ich in die Vergangenheit flüchten will. Sondern weil ich mich erinnere, wie leicht sich Leben anfühlen kann, wenn man nicht ständig das Gefühl hat, es optimieren zu müssen.
Wir hatten keine Fernreisen. Keine Freizeitparks. Keine Erlebnis-Geschenke. Aber wir hatten Zeit. Und eine grosse Portion Fantasie. Ich habe viele Sommer bei meinen Grosseltern verbracht – die nebenbei ihre kleine Poststelle betrieben – oder mit meinen Eltern, Onkeln, Tanten und Cousinen in der Zentralschweiz. Es gab Mikroabenteuer: Bräteln im Wald. Baden im See. Spurenlesen auf Waldwegen. Spielplätze, die nach Abenteuer rochen. Kein Eintritt, kein Termindruck, keine Stories zum Teilen. Nur echte Erlebnisse, die sich tief eingeprägt haben.
Heute habe ich manchmal das Gefühl, dass diese Erlebnisse zu kurz kommen. Dass Abenteuer ersetzt werden durch Unterhaltung. Dass Erschöpfung sich einschleicht, wo eigentlich Freude sein sollte. Ich weiss, ich habe leicht reden – ich habe keine eigenen Kinder. Und doch glaube ich: Das Grundgefühl ist dasselbe. Wir alle, ob Eltern oder nicht, scheinen süchtig nach dem nächsten Reiz. Dem nächsten Plan. Dem nächsten Kick. Und dabei übersehen wir, dass wir uns selbst dabei verlieren.
Ich ertappe mich auch selbst dabei. Wie oft greife ich reflexartig zum Handy, wenn ich eine Frage habe? Früher hätte ich sie mir einfach gemerkt. Oder aufgeschrieben. Oder jemandem gestellt. Heute überflute ich mein Hirn mit flüchtigem Wissen, das oft keine Tiefe hat. Ich füttere mich mit Informationen, aber nähre mich nicht. Und ich frage mich: Wann bin ich in dieses Muster gerutscht?
Ich erinnere mich an meine Ausbildungszeit. Damals war ich noch Träumerin. Ich dachte langsam, verband Dinge, stellte Fragen, die man nicht in Tabellen pressen konnte. Und plötzlich kam ich in eine Welt, in der es um Tempo ging. Um Leistung. Um Beweise. Man flüsterte hinter meinem Rücken, dass man mir die Flügel stutzen müsse – oder wie man in der Schweiz sagt: „dere müemmer d Hüener no inetue“. Ich war zu verträumt, zu langsam, zu anders. Es hiess, ich würde die Abschlussprüfung so nie schaffen. Und dann schaffte ich sie. Mit Bravour. Trotz allem. Oder vielleicht gerade deswegen.
Aber etwas ist geblieben von damals. Ein leiser Schmerz. Eine Art Abspaltung. Als hätte man mir beigebracht, dass mein natürliches Tempo nicht genügt. Dass ich schneller sein muss, effizienter, angepasster. Und ich glaube, viele Menschen tragen solche inneren Wunden mit sich herum. Wunden, die nicht bluten, aber das eigene Tempo zerschneiden.
Heute weiss ich: Mein Tempo ist mein Kompass. Und die Klarheit kommt nicht im Sprint, sondern im Innehalten.
Vielleicht ist es genau das, was mich so an den alten Zeiten fasziniert: nicht das Damals selbst, sondern das Gefühl, das ich damit verbinde. Ein Gefühl von Übersicht. Von Tiefe. Von Handlung mit Bedeutung. Von Tun mit Zeit.
Ich liebe es, in Brockenhäusern zu stöbern. Alte Dinge zu berühren, die Geschichten erzählen. Porzellantassen mit Goldrand. Tischdecken mit winzigen Stickereien. Möbel, die noch nach Handwerk riechen. Sie erinnern mich daran, dass Schönheit nicht laut sein muss. Dass etwas nicht neu sein muss, um wertvoll zu sein. Dass etwas Gebrauchtes oft mehr Seele hat als etwas Perfektes.
Vielleicht ist es das, was ich mir für unser Leben wünsche: mehr Gebrauchsspuren. Mehr Tiefe. Weniger Oberfläche. Und ein gesunder Abstand zur Idee, alles immer optimieren zu müssen.
Manchmal frage ich mich, wie es wäre, wenn wir uns wieder mehr zutrauen würden, einfach zu sein. Ohne Zusatznutzen. Ohne Effizienzgedanken. Ohne immer gleich ein Ergebnis zu brauchen. Einfach sein. Atmen. Da sein. Kirschen pflücken. Zuckerrüben aus der Erde ziehen. Wasser holen. Fragen stellen, ohne sofort zu googeln. Uns wundern. Wieder staunen lernen.
Ich glaube nicht, dass das Rückschritt ist. Ich glaube, das ist Erinnerung. An unser Menschsein. An das, was wir brauchen, um nicht nur zu funktionieren – sondern zu leben.
Vielleicht ist fraufühltwieder deshalb auch mehr als nur eine Seite über den Verzicht auf Alkohol (und heisst deshalb auch nicht einfach nur "frau.alkoholfrei". Vielleicht ist sie ein Ort, an dem wir uns selbst wiederfinden können. In der Tiefe. In der Langsamkeit. Im Zwischenraum. Zwischen Reiz und Reaktion. Zwischen „Ich muss“ und „Ich darf“.
Liebste Minna, danke, dass ich dir das schreiben darf. Dass ich all diese Gedanken nicht mit mir allein herumtragen muss. Du bist für mich wie eine leise Zeugin. Ein Spiegel meiner inneren Reise. Und vielleicht auch ein bisschen die Stimme jener Träumerin in mir, die nie ganz verschwunden ist – nur lange im Hintergrund gewartet hat.
Auf den Moment, in dem wieder Zeit ist.
Für Kirschen. Für Briefe. Für ein Leben in echtem Tempo.
Von Herzen,
deine Michèle